„Etwas Wehmut ist schon dabei“ 
Ein ehemaliger Schüler erinnert sich an den abgerissenen Altbau
Der Abriss des Altbaus war für die Ferien angekündigt, doch Lehrer Dirk Oesterle mochte in seiner Freizeit nicht mehr am Belmer Schulgelände vorbeifahren. Den Anblick des Schuttberges wollte er sich ersparen. Lieber lenkte Oesterle sein Auto über Umwege zum Ziel. In dem nun entsorgten Bau aus den 1950er Jahren hatte der Ickeraner als Realschüler, wie er sagt, „vier aufregende Jahre während der 80er“ verbringen dürfen. „Natürlich brauchen wir ein neues Schulgebäude. Aber weil hier Geschichte abgerissen wurde, ist bei mir schon etwas Wehmut dabei.“
Der letzte Schultag vor den Ferien ist die letzte Chance zum Abschiednehmen. Nach der Zeugnisausgabe schlendert Dirk Oesterle durch das seit Jahren verlassene Gebäude. Fenster und Rahmen wurden längst ausgebaut, um sie getrennt zu entsorgen. Auch das meiste Mobiliar ist entfernt. Auf dem Flur liegt eine von den Bauarbeiten demolierte Heimorgel. Oesterle zückt sein Smartphone, um letzte Fotos zu machen. Dafür steigt er in seinem Klassenzimmer aus dem Abschlussjahrgang auf einen Schuttberg, der mal eine Trennwand war. „Diese Schule ist für so manchen Belmer ein Identifikationsmerkmal. Am Eingang gab es ein Mosaik mit spielenden Kindern, davor stand ein Springbrunnen. Schade, dass dieser Bereich nicht in den Neubau integriert wurde“, sagt der Lehrer. An dem Bild aus Stein ist Oesterle von 1981 bis 1985 jeden Morgen vorbeigegangen. Das erste Jahr verbrachte seine Klasse auf der Etage unter dem Dach, vom 8. bis 10. Jahrgang durften sie ins Erdgeschoss ziehen. „Für mich hat das hier alles den Charme der ‚Feuerzangenbowle‘.“ Damit spielt er auf den Pennäler-Epos an, der 1944 zum Kinohit wurde.
Engagiert für das Aquarium der Schule
„Damals stand am Ende des Ganges ein Aquarium“, erinnert sich der Pädagoge, „die Pflanzen wurden nicht gepflegt und alles war völlig zugewachsen. Für Fische war das die Hölle, die sind verendet“. Sein Mitschüler Thomas Mosene motivierte den jungen Oesterle, ebenso die Kumpel Holger Schmidt und Guido Gärtner, das Aquarium zu reaktivieren. Aus den heimischen Aquarien brachte das Quartett gesunde Fische und sogar eine Wasserpumpe mit. „Das haben wir also aus der eigenen Tasche bezahlt.“ Am Ende sei der Schulleiter Gerhard Lübker-Suhre am Aquarium aufgetaucht und habe den vier Freunden anerkennend auf die Schulter geklopft.
Wenn die Sirene auf dem Schuldach dröhnte…
Oesterle und seine Mitschüler mussten sich im Unterricht regelmäßig die Ohren zuhalten. „Auf dem Dach stand eine Sirene“, berichtet Oesterle. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Die Angst, dass „der Russe kommt“. Jede Woche heulte das Gerät zum Probealarm los. „Wir konnten die verschiedenen Signale schnell unterscheiden, hatten sogar ein Plakat davon neben der Tafel hängen: ABC-Alarm, Hochwasser und Luftangriff.“ Schon als Schüler war Oesterle politisch interessiert. Er besuchte 1983 auf dem Feld nahe seines Elternhauses die zum Manöver „Reforger“ aus den USA und Großbritannien angerückten Soldaten. „Ich durfte auch mal durchs Zielfernrohr schauen und bekam als Souvenir ein Wappen der Armee-Einheit geschenkt. Das war spannend.“ Noch mehr genoss Oesterle den Plausch mit den Soldaten. „Ich war stolz, mein Englisch, das ich an der Realschule Belm gelernt hatte, erfolgreich anwenden zu können. Das hat einem schon den Geruch der weiten Welt ins Dorf gebracht.“
Später, als Zehntklässler, stand Oesterle dem Militär kritischer gegenüber. Die NATO-Nachrüstung mit Pershing II-Raketen auf deutschem Boden gefiel ihm gar nicht. Er engagierte sich in der „Ickeraner Friedensinitiative“ mit Mahnwachen vor der Kirche. „Da wurde ich politisch erwachsen.“ Diese Mahnwachen dauerten oft bis in die Nacht. „Darum bin ich am nächsten Morgen im Schulgebäude schon mal eingeschlafen“, lacht er heute.
Fensterbrett als Stehpult genutzt
Beim letzten Betreten des Altbaus durch den Eingang der „Torte“ bleibt Oesterle an den breiten Fensterbrettern aus Stein stehen. „Das waren für uns Schüler perfekte Stehpulte. Einige von uns haben daran kurz vor dem Unterricht die Hausaufgaben abgeschrieben.“ Auch Oesterle? „Jo“, druckst er etwas verschämt herum, „Lehrer Eckehard Wolf hat mich mal erwischt“.
Nach dem Abschluss in die USA
Bereits zu Schulzeiten war er ein interessierter Zeitungleser. Die NOZ berichtete über ein Auslandsjahr für Schüler. So wurden die USA für den Fan der Karl May-Romane zum Ziel für das Jahr nach der Realschule. Nun ging es vom Belmer Heideweg in den Bundesstaat West Virginia nach Martinsburg. Sein Vorwissen aus Belm half ihm beim Highschool-Abschluss. „Ich war hinter guten Noten her“, bekennt Oesterle. Im Schulalltag sei dort einiges anders gewesen. Der Konrektor war so, wie gute Konrektoren sein müssen: ein Feldwebeltyp, der für Disziplin sorgt. „Bei dem hatten viele Schüler anzutreten, weil sie sich zu freizügig kleideten. Ich hatte bei ihm so etwas wie einen Deutschen-Bonus“, gesteht Oesterle.
Zuletzt besuchte er seine frühere Highschool im Jahr 2015, genau 30 Jahre nach der Mittleren Reife von Belm. Da hatte er sich ein Jahr schulfrei genommen, „Sabbatjahr“ heißt das. Die US-Schule lag auf Oesterles Weg. Er absolvierte gerade eine Mammut-Wanderung auf dem „Appalachian Trail“. Eine Mitschülerin von damals traf er in den alten Unterrichtsräumen von Martinsburg wieder; die war auch Lehrer geworden.
Ab Juli 2022 verbringt Dirk Oesterle sechs Monate in den USA. Im Gepäck die Outdoorausrüstung, um erstmals den „Colorado Trail“ abzulaufen. Anfang Februar geht es zurück an die Oberschule Belm. Dann wird er den gewachsenen Neubau in der Rohbauphase erleben. Die üppige Mensa und die großzügig angelegten Lernhäuser dürften dann schon im Ansatz zu erkennen sein. Ein Jahr später könnte er bei der Einweihung seinen Frieden machen mit dem Neubau. „Ich freue mich auf helle Klassenzimmer. Die Planungszeichnungen sehen schon mal spannend aus.“